Vom Spielen und Lernen

von | Dez 6, 2023

In der Kulturellen Bildung stellt das Spiel eine faszinierende und doch oft unterschätzte Komponente dar. Es ist ein universelles Phänomen, das die Grenzen von Alter, Kultur und Bildung überschreitet, und ein wesentlicher Bestandteil menschlicher Erfahrungen und Lernprozesse. In diesem Beitrag werden wir die tieferen Bedeutungen und Auswirkungen des Spielens erforscht und seine Rolle für Bildungsprozesse und persönlichen Entwicklung beleuchten.

Obwohl Spielen häufig als bloße Freizeitbeschäftigung abgetan wird, ist es in Wahrheit ein komplexes, vielschichtiges Phänomen, das wesentlich zum menschlichen Wachstum beiträgt. Kinder, die intuitiv spielen, ohne zwischen Leben, Lernen und Spielen zu unterscheiden, zeigen uns, wie diese Aktivitäten natürlicherweise miteinander verwoben sind. Erwachsene hingegen neigen dazu, diese Aspekte zu trennen, oft zum Nachteil ihrer eigenen kreativen und kognitiven Fähigkeiten.

Warum Spielen wir?

Kinder differenzieren ihre Aktivitäten nicht nach Leben, Lernen oder Spielen. Vielmehr bilden alle diese Aspekte eine organisch-synonyme Einheit. Für viele Erwachsene wurde dieses Synonym allerdings im Laufe ihrer Sozialisation aufgespalten und das Spiel auf einer Ernsthaftigkeitsskala an das untere Ende als “Freizeitbeschäftigung” positioniert.

Der Kulturhistoriker Johan Huizinga unterstreicht dagegen die Bedeutung des Spiels als Grundlage menschlicher Kultur und weist darauf hin, dass der Impuls zum Spielen “[…] bereits vorhanden gewesen sein [muss], bevor es menschliche Kultur oder menschliches Sprach- und Ausdrucksvermögen gab” (Huizinga 1956, S. 155). Spielen als Tätigkeit erfüllt demnach zentrale Funktionen der menschlichen Existenz. Spielen ist lustvoll und befriedigend, spielen bedeutet aber auch, sich den ständigen Veränderungen anzupassen. “Das spielerische Verhalten hilft, das enorme kognitive Potenzial des Menschen und seine Verhaltensmöglichkeiten zu bewahren und zu entwickeln” (Fritz 2020, 26). Ähnlich positionieren sich auch Hüther und Quarch wenn Sie die Qualität des Spiels beschreiben:

“Im Spiel werden die bekannten Strukturen und Ordnungen des Lebens porös. Im Spiel tauchen wir ein in jene Potenziale, die zu entfalten uns lebendig macht. Im Spiel eröffnen sich uns neue Perspektiven.” (Hüther und Quarch 2016, 72)

Obwohl allen Menschen diese Erfahrungen bekannt sind, sie in ihrem Leben bereits gespielt haben und dies bewusst oder unbewusst (z.B. soziale Rollenspiele) auch bis ins hohe Alter tun werden, besteht allerdings die Schwierigkeit, die Sache “Spiel” oder die Handlung des Spielens im theoretischen Diskurs genau zu fassen. Auf den Punkt bringt dies der Spieltheoretiker Brian Sutton-Smith mit der Aussage “[…] when it comes to making theoretical statements about what play is, we fall into silliness.” (Sutton-Smith 1997). Daher werden wir nun versuchen diesen Begriff genauer zu fassen.

Spiel

Im Englischen existiert die Unterscheidung zwischen der Aktivität “to play” und der Sache, “the game”. So meinen Sätze wie “It’s just a game” oder “It’s just play” unterschiedliche Dinge. “It’s just a game” ist z.B. eine Aufmunterung, nachdem eine Spielrunde verloren wurde. “It’s just play” könnten Eltern denken, wenn sich zwei ihrer Kinder gegenseitig im Spaß ärgern. Auf dieser Basis lässt sich in einem ersten Gedankenschritt folgern, dass das Spielen eines bestimmten Spiels/game (z.B. Schach, Golf, The Legend of Zelda, …) im Allgemeinen eine stark zielgerichtete Handlung mit einer endlichen Dauer und dem Ziel des Siegs ist. Im Gegensatz dazu hat das Spiel/play einen viel lockereren Rahmen von Zielen, z.B. das freie Spielen mit Bauklötzen, im Sandkasten oder die Nutzung des Kreativmodus in Spielen wie Minecraft oder Minetest. Das Spiel/play hat offene Enden und meist keine klar festgelegten Ziele.

Auch der Spielpädagoge Jürgen Fritz erkennt diese Problematik. Durch eine Dimensionierung des Spiels in Verhaltensdimension, Rahmungsdimension und Konstruktionsdimension gelingt ihm allerdings eine begriffliche Feindifferenzierung (Fritz 2020, 16). So rückt beim Spiel als spielerisches Verhalten “die Tätigkeit in den Mittelpunkt des Erlebens und weniger das Ziel oder das beabsichtigte Ergebnis. Die Tätigkeit an sich hat emotionalen Befriedigungswert: Es macht Spaß sich spielerisch zu verhalten.” (ebd. 17). Spielerisches Verhalten ist damit geprägt von Autonomie und dem Vermögen, den eigenen Impulsen folgen zu können. Gleichzeitig geht es auch um die Möglichkeit, Neues und Unbekanntes zu denken und sich selbst anders wahrzunehmen. Damit verbunden ist eine Haltung, Wagnisse und Experimente einzugehen und Ungewissheit und Spannung auszuhalten (ebd). Das ist die Basis für divergentes Denken und Kreativität (Robinson 2017). Fritz (2020) hält dazu fest, dass spielerisches Verhalten “an die potentielle Variabilität des Menschen [anknüpft], sich an unterschiedliche und sich verändernde Umwelten anpassen zu können”.

Bei der Betrachtung des Spiels als Spielwelt (Rahmungsdimension) geht es nun um die Unterscheidung von Spielwelt und realer Welt. Spielende tun so “als ob” (Piaget). Sie konstruieren etwas, was außerhalb unserer Welt liegt, und “setzen sich über diese verbindliche Realität hinweg und konstituieren eine neue Realität, die ihren momentanen Bedürfnissen und Zielsetzungen entspricht und deren Erfüllung zulässt.” (Oerter 1993, 9). Das ist die “Spielwelt” (Fritz 2020, 27). Die Konstruktionsdimension erfüllt schließlich die Funktion, die Spielwelt aus der realen Welt herauszulösen, indem sie Spiel als Konstrukt aus Verabredungen, Regeln und Materialien beschreibt (ebd. 32). Damit ist die Konstruktionsdimension das, was Spielforscherin Jane McGonigal als Game bezeichnet und welchem sie vier zentrale Eigenschaften zuschreibt: Ziel, Regeln, Feedbacksystem sowie Freiwilligkeit an der Teilnahme.

Das Ziel ist ein spezifischer Outcome, den Spieler:innen durch Arbeit erreichen wollen. Das Ziel fokussiert die Aufmerksamkeit und gibt eine kontinuierliche Orientierung zur Partizipation am Spiel. Es steuert auch einen wichtigen Anteil zur Sinnhaftigkeit des Spiels bei. Regeln grenzen ein, wie Spieler:innen das Ziel erreichen. Indem offensichtliche Wege zur Zielerreichung beschnitten oder entfernt werden. Das regt die Spieler:innen dazu an, bisher unbekannte Möglichkeiten zu erkunden. Sie müssen dazu kreativ sein und strategisch denken. Das Feedbacksystem (z.B. Punkte, Levels, Fortschrittsanzeige, freigeschaltete Fähigkeiten, …) gibt den Spieler:innen Rückmeldung darüber, wie nah sie an der Erreichung des Ziels sind. Im einfachsten Fall teilt ein Feedbacksystem Spieler:innen mit, wann das Spiel vorbei ist. Das Echtzeit-Feedback ist dabei auch eine Art Versprechen an die Spieler:innen, dass das Ziel erreichbar ist und motiviert sie weiterzuspielen. Letztlich entscheiden alle Personen, die an einem Spiel teilhaben, sich dazu aus freien Stücken und akzeptieren dabei die Ziele, Regeln und das Feedbacksystem. (McGonigal 21)

Potenziale des Spielens

McGonigal nennt in Anknüpfung an Bernard Suits das Spiel Golf als Beispiel, welchem alle diese Eigenschaften innewohnen. Dabei ist zentral, dass ein trivial wirkendes Ziel, nämlich die Beförderung eines Balls in ein Loch durch Regeln und ein Feedbacksystem künstlich erschwert werden. Suits definiert daher das Spielen eines Spiels folgendermaßen:

„Playing a game is the voluntary attempt to overcome unnecessary obstacles.“

Spiele fordern Menschen also dazu heraus, freiwillig Hürden zu überwinden und dabei die persönlichen Stärken zu nutzen (McGonigal, 22). Spieleentwickler:innen gelingt es damit, Settings zu entwickeln, die Spieler:innen zu extremen Anstrengungen inspirieren und gleichzeitig diese harte Arbeit wertzuschätzen. Sie regen Menschen zu Kooperation und Kollaboration an. Sie schaffen es, Spieler:innen zu motivieren, immer schwieriger und komplexer werdende Aufgaben zu meistern.

“These crucial twenty-first-century skills can help all of us find new ways to make a deep and lasting impact on the world around us. Game design isn’t just a technological craft. It’s a twenty-first-century way of thinking and leading. And gameplay isn’t just a pastime. It’s a twenty-first-century way of working together to accomplish real change.” (McGonigal 2012, 13)

Eine solche Teilhabe an der Gestaltung von Welt (egal ob in der Schule, im Unterricht oder in der Gesellschaft) setzt ein hohes Maß an Gestaltungswillen voraus. Das Bedürfnis zur Gestaltung von Welt und Zukunft steht jedoch in starkem Widerspruch zu unhinterfragten, tradierten Strukturen im Bildungsbereich, angefangen bei räumlichen und zeitlichen Strukturen, über curricular vorstrukturierte Abläufe bis hin zu Inhalten sowie Macht- und Hierarchiegefügen, in die Schüler:innen und auch Studierende eingebettet sind. In Anlehnung an das Habituskonzept von Bourdieu gehen wir davon aus, dass häufig nur Wahrnehmungen zugelassen werden, die im Einklang mit dem eigenen Verarbeitungsmodus stehen, um sich selbst vor krisenhaften Erfahrungen und sich daraus ergebenden Veränderungen zu schützen (Koller 2012, 27). Obwohl der Habitus, “der mit den Strukturen aus früheren Erfahrungen jederzeit neue Erfahrungen strukturieren kann” (Bourdieu 1987, 113f.), als etwas schwer Veränderliches gilt, macht Bourdieu deutlich, dass Erfahrungen auch umgekehrt die “alten Strukturen in den Grenzen ihres Selektionsvermögens beeinflussen” (ebd.).

Ausgehend von der Annahme, dass Gaming und Game Design Menschen zu kreativem und kommunikativem Handeln motivieren, schöpfen Kinder, Jugendliche und insbesondere junge Erwachsene (Lehramtsstudierende) aus der Gestaltung von und innerhalb (digitalen oder analogen) Spielwelten Autonomie, Motivation und Kreativität zur Gestaltung von Welt. Die dabei freigesetzte intrinsische Motivation, die auch als Motor menschlichen Handelns bezeichnet werden kann, basiert auf Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit (Deci und Ryan 1993). Gerade diese Merkmale zeichnen auch erfolgreiche Spiele aus. Csíkszentmihályi fügt diesen Merkmalen noch das “Flow”-Erlebnis hinzu, welches sich auszeichnet als ein Zustand zwischen Unterforderung (Bore-out) und Überforderung (Burn-out). In diesem hoch kreativen Zustand vergisst man Raum und Zeit, ist hochkonzentriert, lösungsorientiert, fokussiert und prozessorientiert (Csikszentmihalyi 2015).

Ein Beitrag von Daniel Autenrieth

Literatur

  • Bourdieu, Pierre. 2020. Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft. Übersetzt von Günter Seib. 11. Auflage. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1066. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Csíkszentmihályi, Mihaly. 2015. Flow: das Geheimnis des Glücks. Übersetzt von Annette Charpentier. 18. Auflage, 2015. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Deci, Edward L., und Richard M. Ryan. 1985. Intrinsic Motivation and Self-Determination in Human Behavior. Boston, MA: Springer US. https://doi.org/10.1007/978-1-4899-2271-7.
  • Fritz, Jürgen. 2004. Das Spiel verstehen: eine Einführung in Theorie und Bedeutung. Grundlagentexte soziale Berufe. Weinheim München: Juventa.
  • Huizinga, Johan. 2019. Homo ludens: vom Ursprung der Kultur im Spiel. Übersetzt von Hans Nachod. 26. Auflage. Rororo 55435. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
  • Hüther, Gerald, und Christoph Quarch. 2016. Rettet das Spiel! Weil Leben mehr als Funktionieren ist. München: Carl Hanser Verlag.
  • McGonigal, Jane. 2012. Reality Is Broken: Why Games Make Us Better and How They Can Change the World; Includes Practical Advice for Gamers. London: Vintage.
  • Oerter, Rolf. 1993. Psychologie des Spiels: ein handlungstheoretischer Ansatz. Quintessenz-Lehrbuch. München: Quintessenz-Verl.
  • Sutton-Smith, Brian. 1997. The Ambiguity of Play. Harvard University Press. https://doi.org/10.2307/j.ctv1q16s5b.