Bildung und Lernen in einer Kultur der Digitaliät

von | Dez 5, 2023

In einer Welt, in der Digitalität das gesamte Leben prägt, stehen wir vor der Herausforderung, Lehren und Lernen neu zu definieren. Dieser Beitrag bietet einen tiefen erziehungswissenschaftlichen Einblick in die Bedeutung der Digitalität und deren Auswirkungen auf die Bildung.

Annäherung an den Begriff

Digitalisierung beschreibt im engsten Sinne eine Umwandlung analoger Medien in digitale Formate, wie zum Beispiel beim Scannen eines Buches. In einem weiten Sinne betrachtet, geht es bei der Digitalisierung jedoch um weitreichende Veränderungen, die durch die Verwendung digitaler Medien in verschiedenen Prozessen entstehen (Stalder 2021, 3).

Digitalisierung, als Produkt menschlicher Kultur (Rat für Kulturelle Bildung, 2019) ist allerdings nicht nur ein technologischer, sondern in erster Linie ein Metaprozess (Krotz 2007, 11), der weder räumlich noch zeitlich in seinen sozialen und kulturellen Folgen begrenzt ist und damit Auswirkungen auf Handlungsabläufe, Lebensweisen, Wahrnehmungs- und Denkstrukturen sowie die Gestaltung der Welt durch Menschen und Gesellschaften besitzt (Autenrieth & Nickel 2022). Kultur selbst wird dabei ebenfalls als Prozess verstanden, welcher der Verhandlung und Realisierung sozialer Bedeutung sowie der normativen Dimension der Existenz dient (Stalder 2019, 16). Digitalität wird als Ergebnis dieses Metaprozesses verstanden, wenn die Digitalisierung eine bestimmte Tiefe und Breite erreicht hat, wodurch ein neuer Raum der Möglichkeiten entsteht, der von digitalen Medien geprägt ist. In dieser Hinsicht steht Digitalität zur Digitalisierung in einer ähnlichen Beziehung wie die Buchkultur zur Alphabetisierung. Durch die weit verbreitete Anwendung neuer kultureller Techniken entsteht ein neuer kultureller Raum, der sowohl Möglichkeiten als auch bestimmte Einschränkungen mit sich bringt (Stalder 2021, 4).

Grundformen der Digitalität

Stalder argumentiert daher, dass wir nicht länger in einer Übergangszeit hin zu einer digitalen Kultur leben, sondern in einer Zeit, in der Digitalität eine dominierende kulturelle Logik ist, die das soziale und kulturelle Leben auf verschiedene Weise durchdringt und prägt. Er definiert die Kultur der Digitalität durch drei grundlegende Praktiken (Stalder 2019, 95):

  • Referentialität: In der digitalen Kultur wird Information weitgehend durch Beziehungen zu anderen Informationen definiert, wie z.B. durch Hyperlinks. Dies bedeutet eine Verschiebung weg von der Betrachtung von Information als isolierte Einheiten hin zur Betrachtung von Information als Teil eines größeren Netzwerks von Beziehungen. (ebd., 96)
  • Gemeinschaftlichkeit: Digitalität ermöglicht neue Formen der Gemeinschaftsbildung, die nicht mehr auf geographische Nähe oder starre institutionelle Strukturen angewiesen sind. Durch digitale Techniken können Menschen sich auf neue Weisen organisieren und kooperieren, die traditionelle Grenzen und Hierarchien überschreiten. (ebd., 129)
  • Algorithmizität: Informationen werden zunehmend durch Algorithmen verarbeitet, die uns dabei helfen, Bedeutungen zu finden, Entscheidungen zu treffen und unser Verhalten zu koordinieren. Dies führt zu einer neuen Art der Rationalität, die sich stark auf die algorithmische Verarbeitung und Analyse von Daten stützt (ebd., 164).

Während die Digitalität als dominierende kulturelle Logik unter dem Einfluss der hier skizzierten Praktiken unser soziales und kulturelles Leben durchdringt, stellt sich die Frage, wie diese neue Kultur die Art und Weise beeinflusst, wie wir als Gesellschaft interagieren und partizipieren. Im Folgenden soll daher kurz beleuchtet werden, welche polaren Ausprägungen innerhalb einer Kultur der Digitalität diskutiert werden.

Kultur der Digitalität = Kultur der Partizipation ?

Autenrieth & Nickel beschäftigen sich seit 2020 mit der Frage, ob und wie eine Kultur der Digitalität gleichgesetzt werden kann mit einer Kultur der Partizipation. Sie beleuchten dabei sowohl neue Formen der Macht und Kontrolle sowie auch veränderte Möglichkeiten für Kreativität und die Gestaltung der Welt (Autenrieth & Nickel 2023). Sie skizzieren im Anschluss an Stalder eine dichotome Ausprägung einer Kultur der Digitalität, die einerseits bestimmt sein kann durch eine post-demokratische Welt der Überwachung, die geprägt ist durch Wissensmonopole und andererseits eine “Kultur der Commons und der Partizipation” (Stalder 2019, 245). 

Mit Blick auf Wissensmonopole untersuchte der Techniksoziologe Ulrich Dolata (2014) die Märkte und Macht der s.g. Big Five (Google, Meta, Apple, Amazon und Microsoft). Er kam zu dem Schluss, dass diese Konzerne nicht nur maßgeblich die digitalen Angebote und -märkte beeinflussen. Sie bestimmen auch, durch ihre Kontrolle über die Hauptinfrastrukturen, wie Menschen auf Inhalte zugreifen und wie sie darin Informationen und Kommunikation nutzen. Dolata betont, dass nicht Dezentralisierung oder Demokratisierung, sondern vielmehr Konzentration, Kontrolle und Macht die Hauptfaktoren sind, die die zentralen Entwicklungen des kommerziellen Internets bestimmen  (Dolata 2014., 5f.). Dagegen sind „Commons“ meist dezentral organisiert und basieren auf dem Prinzip der offenen Teilnahme und des gemeinsamen Nutzens. Sie ermöglichen es den Menschen, Wissen und Ressourcen zu teilen und gemeinsam zu nutzen. Beispiele hierfür sind Open-Source-Softwareprojekte, Open Educational Resources (OER), Wikipedia und andere Formen von gemeinschaftlich erstellten Inhalten. 

Veränderung der Lehr- und Lernkultur

In der Buchkultur gab es klare Vorstellungen von Linearität und Ordnung, wobei Wissen als fest und unveränderlich galt. Das Lernen konzentrierte sich darauf, festgelegte Kulturtechniken zu erwerben und sich dieses geordnete Wissen anzueignen.

Im Gegensatz dazu ist die Digitalität von Flexibilität, Dynamik und anderen Vorstellungen geprägt, nämlich: 

“Nicht-Linearität; assoziativen Verknüpfungen; Parallelität und Gleichzeitigkeit; Feedback, das Ursache und Wirkung verschmelzen lässt; ein Ding kann an mehreren Orten gleichzeitig sein; jede Position ist immer kontext- und zeitabhängig etc.” (Stalder 2021, 4)

Diese neuen kulturellen Erfahrungen, die durch die Digitalität ermöglicht werden, führen, wie zu Beginn dieses Kapitels bereits erwähnt, zu einer veränderten Wahrnehmung von uns selbst und unserer Umwelt. Damit wandeln sich allerdings auch die Kompetenzen und Kulturtechniken, die sich Menschen aneignen müssen. Es geht weniger darum, feststehende Fakten zu lernen, sondern vielmehr darum, sich in einem ständig verändernden Raum zurechtzufinden. Das bedeutet, Informationen ständig neu zu bewerten und sich anzupassen. Dieser kulturelle Wandel erfordert daher auch einen Lernkulturwandel (u.a. Döbeli Honegger 2021), dessen mögliche Entwicklungslinien als stark divergierend wahrgenommen werden können (ebd., 45). So beschreibt Muuß-Merholz (2019) eine Verstärker-These die davon ausgeht, dass die Möglichkeiten der Digitalität nur die bestehende Lernkultur verstärken könnten: Lehrende, die eher behavioristisch orientiert unterwegs sind, würden so bewusst oder unbewusst die entsprechenden Potenziale des Digitalen nutzen. Gleiches gilt für jemanden mit einem konstruktivistischen Ansatz (Muuß-Merholz 2019). Die Katalysator-These beschreibt dagegen das Potenzial, dass sich durch die Digitalisierung die Lernkultur fast von selbst in Richtung Konstruktivismus entwickelt. Dabei wird das Digitale ohne kritische Betrachtung als treibende Kraft für Veränderungen im Bildungsbereich gesehen. (Döbeli Honegger 2021, 45).

Diese stark konträren Thesen machen deutlich, dass wenn es um die Diskussion einer veränderten Lehr- und Lernkultur geht, starke Abhängigkeiten zum Bildungsverständnis sowie den zugrundeliegenden Menschenbildern der Beteiligten vorliegen. Die insbesondere von Mayrberger (2019) erarbeitete partizipative Mediendidaktik bietet hier die Chance, auf der Basis eines soliden theoretischen Rahmens zum einen eine Orientierung für die Entwicklung von Lehr-/Lernarrangement zu bieten.  Zum anderen ist sie durch ihr konstruktivistisch und ermöglichungsdidaktisch orientiertes Verständnis von Lehr- und Lernprozessen hoch anschlussfähig an die Dynamik und Komplexität einer Kultur der Digitalität. 

Ein Beitrag von Daniel Autenrieth

Literatur